Am Dienstagabend juckt es mich irgendwie in den Fingern – ich will noch etwas unternehmen, nachdem ich den Nachmittag mit einem ausgiebigen Spaziergang verbracht habe.
Kurzerhand entschließe ich mich, zum „Braunkohleloch“ zu fahren: der Tagebau Garzweiler II ist nur wenige Kilometer von Odenkirchen entfernt.
Ich kurve durch Sasserath, Hackhausen und Hochneukirch und stehe, nachdem die kleine Straße die A 46 überquert, plötzlich vor dem Riesenbraunkohleloch… „Ging es hier früher nicht nach Holz?“ frage ich mich – verwerfe den Gedanken aber wieder angesichts der von kleinen Hügeln und mächtigen Furchen geprägten Mondlandschaft, die mich umgibt. Die Straße endet abrupt. Nach einer scharfen Linkskurve führt der Weg weiter – immer entlang am Tagebaurand.
Erst einmal parke ich mein Auto. Ich schlängle mich an der Absperrung vorbei (…die niemanden ernsthaft aufzuhalten vermag, der wirklich vorbei will) und erklimme einen der kleinen, von Bulldozern aufgeschütteten Hügel. Es bietet sich ein bizarres Panorama. Das sanfte Licht der Abendsonne erleuchtet den Tagebau. Scheinbar nur wenige Meter entfernt von mir (tatsächlich werden es schon so 100 Meter sein) ragt ein riesiger Bagger aus dem Nichts hervor. Ein unwirkliches aber stetiges Rauschen und Summen liegt in der Luft. Ich bin irritiert – aber klar: Bagger, Schaufelräder, Förderbänder… alles ist in Betrieb und läuft und lärmt vor sich hin. Das Loch ist riesig, die Maschinen und Fahrzeuge (mal abgesehen von den Braunkohlebaggern, die auch aus der Entfernung wie Monsterkraken aus Stahl aussehen) scheinen verschwindend klein und die Geräusche dringen nur schwach hinauf zu mir.
Ich schieße ein paar Fotos, während sich (wie immer an diesem Ort) in meinem Körper ein undefinierbares Gefühl der Beklemmung breitmacht…
„Hallo? Haaa-llooo!“ ruft eine Frau in meinem Alter mir vom Straßenrand zu: „Da hinten ist eine Aussichtsplattform, da können sie noch mehr sehen!“
Sprach’s und walkte stöckeklappernd weiter. Ich gehe die wenigen Schritte zurück zum Auto und fahre ein kurzes Stück, bis ich einen niegelnagelneuen Parkplatz und eine Art Aussichtsterrasse erreiche. Von hier aus ist der Ausblick wirklich noch besser – und noch beklemmender und noch gigantischer. Bis zum Horizont erstreckt sich der Tagebau mit seinen Terrassen, Erdschichten, kilometerlangen Förderbändern und den riesigen Baggern. Auf der westlichen Seite wird „abgebaggert“, während im Osten das Tagebauloch schon wieder zugeschüttet wird. Die Wolken aus Wasserdampf, die aus den Kühltürmen des Kraftwerks Frimmersdorf emporsteigen, werden von der sinkenden Sonne in seltsame rosa-Farbtöne getaucht.
Ich frage mich, wie viele Tonnen Erdreich, also Abraum, man wegbaggern muss, um eine Tonne Braunkohle zu fördern. Und ich frage mich, wie viel Energie – denn darum geht es ja letztendlich – in so einer Tonne Braunkohle steckt, die da im Kraftwerk verfeuert wird… Gerade fällt mir ein, dass ich vor vielen Monaten hier in meinem Blog ja schonmal was über die Kraftwerke geschrieben habe…
Ja, nämlich HIER!
Wie energiehungrig sind wir, unsere Städte, Büros oder Haushalte – dass man ganze Landstriche einfach abbaggert, um an die begehrten Rohstoffe zu gelangen?
Gedankenverloren lasse ich meinen Blick schweifen, weiter nach Westen, wo vor nicht allzu langer Zeit noch die Autobahn die Landschaft zerteilt hat. Jetzt ist sie – fast spurlos – verschwunden. Und noch etwas fehlt: Ich kann den alten Wasserturm von Holz gar nicht entdecken. Ich kneife die Augen zusammen und suche den Horizont ab… außer ein paar Windrädern und Baumgruppen nichts zu sehen.
Heute erfahre ich aus dem Internet: Der Holzer Wasserturm wurde vor knapp sechs Wochen gesprengt… jetzt rücken die Bagger vor… Schon komisch, dass auch dieses weithin sichtbare Bauwerk nun aus der Landschaft verschwunden ist… Genau wie all‘ die Häuser und Höfe der Ortschaft Holz, die einfach vom Erdboden verschwunden sind…
Bei YouTube habe ich einen Film entdeckt, der über den alten Wasserturm berichtet. Und über die Sprengung am 22. Januar 2011:
Fröstelnd steige ich, nachdem ich etliche Minuten die Farben, Formen und Eindrücke des Tagebaus in mich aufgenommen habe, wieder in mein Auto. „Nach Hause navigieren“ sagt mein TomTom, ja – das ist einfach: immer geradeaus!
Die Sonne versinkt als leuchtend roter Ball am Horizont. Ich sitze im Auto und suche eine Stelle zum Anhalten, damit ich noch ein paar Fotos machen kann. Wirklich Minutensache ist es dann, noch ein paar schöne Aufnahmen zu machen, bevor die Sonne endgültig verschwindet.